Governance & Compliance
Denkschrift Nr. 20
10.09.2016

Gegen die Aushöhlung von Moral - Was Unternehmen dagegen tun können ?

von Manfred Hoefle

 

 

Moralisches Verhalten hat einen schweren Stand, vor allem unter den erschwerten Bedingungen einer sich globalisierenden und zunehmend "nominalen" Wirtschaft. Besonders gefährdet sind (über)große Unternehmen, Megakonzerne. Beschreibungen moralischer Aushöhlung gibt es zuhauf. Worauf es ankommt ist wirksame Abhilfe. 
Diese ist nicht von mehr Auditierung/Compliance/Kontrolle/Zertifizierung zu erwarten, die in den letzten zwei Jahrzehnten zum großen Geschäft aufgebläht wurden. Der "American Way of Control" ist nicht nachhaltig und passt nicht zur europäischen Kultur des Wirtschaftens.

Nach Abschluss des Führungsseminars des reputierlichen Kreditinstituts saß man in lockerer Stimmung zusammen und plauderte drauflos, über Freizeit, Ferien und Studentenzeiten. Das Wort führte der Abteilungschef, dem es sehr gelegen kam, zu zeigen wie smart er schon immer war.
Zwei Anekdoten daraus: In den Semesterferien jobbte er als Parkplatzwart. Seine alten Kollegen hatten ihn als Neuen gleich "eingewiesen", wie man die Parktickets damals auf einfache Weise mit handgeschriebenen Eigenbelegen manipuliert, ohne befürchten zu müssen aufzufliegen. Die erste Betrugsschicht hatte er gleich hinter sich gebracht und war so wissendes Mitglied dieses Kartells. Das Risiko entdeckt zu werden war, wie er beiläufig bemerkte, ohnehin recht gering, der Job bald vorüber und das Ganze einträglich.
Das zweite Ereignis: Das Fleisch war schon etwas verdorben, weil es am Vortag nicht mehr ausgeliefert wurde. Die regulären Fahrer haben diesen schmutzigen Job dem Studenten aufgedrückt, der den gut entlohnten Aushilfsjob unbedingt behalten wollte. Über Skrupel setzte er sich hinweg und lieferte aus. Warum auch nicht? Er wäre blöd gewesen, es wäre dumm gewesen, es nicht zu tun, meinte er.

Weil das schon so lange zurücklag, gab der Chef diese Geschichten ohne Bedenken zum Besten. Die Meisten hatten interessiert, gefällig zugehört. Nur einer hatte sich davon gemacht, weil ihm das zu viel wurde. Da fragt sich: Ist so etwas ein besonderer Fall oder doch etwa typisch?

Stufen der Enthemmung

Dieser Fall enthält viel Lehrreiches. Der Verlust an Moral fängt in aller Regel unvermittelt und in kleiner Dosierung an. Dabei sind Cleverness und übertriebener Eigennutz willige Gehilfen. Das Muster ist folgendes: Man entdeckt, dass Unterschlagung, Betrug leicht möglich sind; schließlich durchschaut man die Lücken des Systems. Dann merkt man, dass die Betrügerei, die Veruntreuung nicht auffliegen werden, dass sie überraschend leicht zu verheimlichen sind. In aller Regel kommt noch die Rechtfertigung gelegen, dass es nun mal eine günstige Gelegenheit sei oder einem angesichts der geringen Entlohnung sowieso mehr zustehen würde. Obendrein stellt sich unversehens das kleine oder große Glücksgefühl ein, dass man das gut hinbekommen hat.

Im Fachjargon spricht man von "cheater’s high"(1). In einer umfassenden Auswertung diesbezüglicher Studien kommt ein interuniversitäres Forscherteam zum Schluss, dass entgegen landläufiger Meinung unethisches Verhalten nicht Gewissensbisse produziert, sondern tatsächlich Zufriedenheit verschafft, woraus eine selbstregulierende Wirkung auf das weitere Verhalten entsteht. Kurz: Schummeln, Schwindeln, Veruntreuen sind für nicht wenige, solange sie nicht erwischt werden und andere nicht unmittelbar schädigen, eine Quelle von Genugtuung, nicht zuletzt ein willkommenes Erfolgserlebnis.

Wo und wann sind moralische Entgleisungen wahrscheinlich?

Dass es unterschiedliche Gefährdungsebenen gibt, liegt auf der Hand. Besonders Anfällige sind:

1. Geschlossene, hochkompetitive Gruppen
Wenn Unternehmen ihre Kunden oder Wettbewerber geringschätzen und in den Unternehmen bestimmte Gruppen, Abteilungen, Seilschaften sich abgrenzen, um handfeste Vorteile zu erlangen, ist große Vorsicht angebracht. Ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit: Nach der Finanzkrise wurde bekannt, dass angelsächsische Banker deutsche Investoren ("dumb german money") verspotteten und bei Goldman Sachs "unsophisticated" Kunden bisweilen als "Muppets" bezeichnet wurden.

Aus eigener Beobachtung bestätigte sich des Öfteren die arrogante Haltung einer prominenten Strategieberatung gegenüber Managern des Klienten. Frisch dem Studium entsprungene "Beraterlehringe" wähnten sich gestandenem Führungspersonal überlegen, witzelten hinterrücks über sie. Prominentester "Fall" war der langjährige Chef von McKinsey, der wegen Insider-Kalamitäten verurteilt wurde.(2) Der Business Professor Bala Balachandran will ihn schon lange davor gewarnt haben: „.... if you are in a herd of pigs, you will also smell." Ein Unternehmen von nur mehr historischem Symbolwert war Enron, wo aggressive, von Beratern eingeführte Praktiken zum normalen Geschäft von Insidergruppen wurden, die sich keine Gelegenheit zur privaten Vorteilnahme entgehen ließen.

Im jüngsten Fall von VW bekam man vorgeführt, wie Vorstand und Arbeitnehmervertretung sich unverhohlen zu einer intransparenten Zweckgemeinschaft zusammenfanden - und das unter dem angeblich achtsamen Auge von Medien und Politik. Als die Abgasschwindel platzte, tat man überrascht, unwissend und suchte nach Bauernopfern, wiewohl alle wussten, zumindest ahnten, dass die Schlacht Größter der Branche zu werden nicht mit "einfachen" Mitteln und nicht schnell zu gewinnen ist. Überhaupt: Die lange, schillernde Geschichte der Korruption spielte sich ausnahmslos in engen Zirkeln ab.(3)

2. Anonyme Verhältnisse und entpersönlichte, komplexe Welten
Unübersichtlichkeit, Anonymität befördern Nichtlauterkeit. Hat man bei Transaktionen kein persönliches Gegenüber, sinkt die in vielen Studien nachgewiesene Hemmschwelle, den Anderen zu übervorteilen. Fehlt die Überschaubarkeit, was bei vielen Großorganisationen zutrifft, ist man geneigt, unablässig seinen Vorteil zu suchen. Dort wo schwer durchschaubare Algorithmen und ultraschnelle Transaktionen großes Gewicht haben, unterliegen die wenigen, kaum zu überwachenden Akteure dank ihres Spezialwissens und der asymmetrischen Informationslage der ständigen Versuchung, Lücken in Systemen für sich zu verwerten. Auf unlautere Aspiranten wirken solche Jobs nicht selten verlockend. Über die letzten Jahrzehnte ist insgesamt ein starkes Anwachsen der Zahl von Leuten festzustellen, die sich mit größtem Eifer dem Aufspüren und Ausnutzen von Marktanomalien und Haftungslücken widmen. Wertschöpfung ist für sie ein Fremdwort.

Eine "cashless world" ist kein besserer Hort der Ehrlichkeit als die Welt des Bargelds.(4) Die zunehmende Bedeutung der Nominalwirtschaft und des Internets bringen generell eine höhere strukturelle Betrugsgefahr mit sich. Cyber crime ist inzwischen eine geläufige Vokabel für die um sich greifenden betrügerischen Machenschaften staatlicher oder privater Akteure: vom Hacken von Zugangsdaten bis zum definitiven Identitätsklau. Dazu befähigt eine außerordentliche kriminelle Intelligenz, häufig transnational verteilt.

3. Hohe Incentivierung und große Einkommensunterschiede
Seit dem Aufkommen der Share Holder Value-Doktrin und der begleitenden Verbreitung finanzieller Anreiz-Systeme für das Management sind die Einkommensunterschiede innerhalb von Unternehmen und zwischen nationalen und internationalen Peer-Groups erheblich gewachsen.(5)

Trotz der immer wieder aufwogenden Empörung über exorbitante Vergütungen in manageristischen(6) Unternehmen - wiederum als Beispiel VW - ist wenig über die direkten und indirekten Auswirkungen auf die Betriebsmoral zu vernehmen. Die Beobachtung zeigt: Wenn der Einzelne die Einkommenshöhe für das Top-Management für ungerechtfertigt hält, resigniert er oder überlegt, wie er doch noch für sich etwas herausholen kann.(7)

4. Eigennutz und Globalisierung
Wenig beachtet sind auch Untersuchungen, die belegen, dass in einem frühen Stadium, nämlich bereits im Studium, smarte, äußerst vorteilsbedachte, außengeleitete(8) Jugendliche in die Fächer drängen, die ein rasches pekuniäres Vorwärtskommen in Aussicht stellen. Das sind zu einem großen Teil MBA's. Studien an amerikanischen Universitäten haben auch noch bestätigt, dass diese - im Unterschied zu naturwissenschaftlichen und ingenieurbezogenen Studienrichtungen signifikant mehr schwindeln.(9) Der aufgeregte Ausruf des "War on Talent" (McKinsey) war ein Symbol für den neuen Darwinismus in der Wirtschaft, der das Absinken des Moralpegels zur Folge hat. Die intrinsische Motivation, seine Arbeit gut zu machen, verlor indes an Boden, das Gieren nach Vorteilen nahm seinen Lauf.

Überschreitungen, Betrügereien, Verbrechen sind Konstanten menschlichen Verhaltens, gerade auch in der Wirtschaft. Wechselhaft ist deren Verbreitung: Perioden relativ geringer Intensität lösen sich mit problematischen ab. Erinnert sei an die wilden Jahre des amerikanischen Frühkapitalismus bis zum Beginn des vorletzten Jahrhunderts und die relativ gesitteten Verhältnisse in den 1950er- und 1960er-Jahren.(10)
Groß sind auch die Unterschiede zwischen Kulturen und Ländern. Auf der "Moralskala" stehen kleinere Länder mit traditionell hohem Arbeitsethos und christlicher Vergangenheit ganz oben.

Die Globalisierung hat die Hürden moralischen Handelns abgebaut und die Gelegenheiten zu Abweichungen davon stark erweitert. Ein Grund ist die konsequente Instrumentalsierung der Wirtschaft für nationale Interessen, wie sie beispielsweise bei der Missachtung von Geistigem Eigentum (IP) zutage tritt. Die verstärkten Wirtschaftsbeziehungen vor allem mit Großstaaten wie China, Indien, Brasilien haben nicht in gleichem Maße zu einer Weiterentwicklung der Vertrauenswürdigkeit und Einhaltung moralischer Standards geführt, was sich im konkreten Verhalten der Beteiligten widerspiegelt.

Waren es früher verhältnismäßig häufig Einzeltäter, sind heute, zudem noch in globalem Rahmen, Gruppierungen am Werke, die in bestimmten Branchen, in wenigen Metropolen, in (Financial) Districts und auf Offshore-Inseln konzentriert sind oder aus einem "Crime Shop" von irgendwo heraus agieren. Und es bestätigt sich die allgemeine Erfahrung, dass in einer hochkompetitiven, von Sonderinteressen bestimmten Wirtschaftswelt moralische Verfehlungen sich rasch verbreiten und die Akteure mit größter Wahrscheinlichkeit der Regulierung und Verfolgung zuvorkommen.

Welche Lehren lassen sich ziehen? 

Notwendig wird wie in früheren Perioden des moralischen Niedergangs eine "Re-moralisierung" Einzelner und ganzer Gruppen. Fakt ist, dass fast jede Gesellschaft einen Anteil unehrlicher, betrugsanfälliger Personen hat. Das trifft im Besonderen auf managergeführte Großunternehmen zu, die einen mehr oder weniger repräsentativen Ausschnitt der Gesellschaft abbilden; im Unterschied zu familiengeführten und Stiftungsunternehmen.

Am größten ist dieser Teil in besonders vorteilsbedachten Gruppen und in solchen, die sich in ihren Kreisen benachteiligt vorkommen. Über die Ursachen gibt es Untersuchungen zuhauf. Falsche, schlechte Vorbilder - wie im eingangs geschilderten Fall -, ausbleibende Sanktionen bei kleinen Überschreitungen, das Emporkommen charakterloser, narzisstischer Personen bis an die Spitze von Unternehmen. Auffallend ist, dass ausgerechnet in manageristischen Unternehmen Sozialkompetenz als wichtiges Förderkriterium für Führungskräfte herausgestellt wird; wohl wissend, dass diese Anforderung an der Spitze nicht zu wörtlich zu nehmen ist. Dagegen scheint dem einen oder anderen CEO die persönliche Imagepflege als forscher Macher und omnipräsenter Entscheider wichtiger als Vorbild zu sein für Anstand und Verantwortung.(11)

Die Sozialisation von Unternehmen - verstanden als Kollektiv der Beschäftigten - hat einen großen Einfluss auf den moralischen Anspruch (und seiner Erfüllung), wozu regionale Bindung, Eigentümerstruktur, Branche, Größe, Geschichte zählen. Tendenziell verkörpern familiengeführte/-bestimmte Unternehmen - im deutschsprachigen Raum im Großen und Ganzen der Mittelstand - eine moralisch relativ intakte Gruppe.

Was soll getan werden, zumindest versucht werden, um die Moral zu revitalisieren?

Erstens: Beim Einzelnen, bei kleinen Gruppen ansetzen - Vorbild "von oben".

Bei der Auswahl von "Leitenden" muss - ohne Wenn und Aber - wieder stärker auf den Charakter abgehoben werden. Wegen der Vorbildfunktion im positiven Sinne und wegen der großen Ausbreitungsgefahr schlechten Verhaltens ist dieser essentiellen Eigenschaft hohe Aufmerksamkeit zu schenken. Der große Managementlehrer Peter Drucker hat es so ausgedrückt: „But if (a man) lacks in character and in integrity – no matter how knowledgeable, how brilliant, how successful – he destroys. He destroys people, the most valuable resource of the enterprise."(12) Charakter, worunter Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Gerechtigkeitssinn fallen, ist ein Muss-Kriterium.(13) Im traditionellen Rollenmodell des "Ehrbaren Kaufmann" sind diese Eigenschaften vereinigt. Dieses Vorbild hat nicht nur seine Berechtigung behalten, es verlangt eine aufrichtige Rückbesinnung, wenn auch in einer Interpretation für die jetzige Zeit.(14) Dagegen ist der vordergründige, modische CSR-Ansatz (Corporate Social Responsibility) nicht fruchtbar, weil aufgesetzt, imagebetont und formal. Die Scheinhaftigkeit dieses zum Beratergeschäft stilisierten Systematik ist zu offensichtlich.(15)

Weil es einfacher ist, problematische Charaktere zu identifizieren als zu versuchen, sie auf dem richtigen Pfad zu lenken, ist die entsprechende Auswahl der Führungskräfte von zentraler Bedeutung. Negativ-Indizien, Hinweise auf einen potentiell bzw. faktisch problematischen Charakter vor allem bei Führungspersonal sind: fehlende Zugehörigkeit zu gestandenen Vereinigungen (berufliche, soziale, politische, kirchliche, ständische), zerrüttete Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse, Vergangenheit bei betrügerischen Arbeitgebern, fehlendes soziales Engagement, übertriebene Eitelkeit(16). Am wichtigsten ist die gelungene Sozialisation. Um es weit zu fassen: Zivilisation baut auf Vertrauen und Rechtmäßigkeit; das hat seine Gültigkeit für Unternehmen gleichermaßen. Die Grundelemente eines gelingenden menschlichen Zusammenlebens, die allgemein bekannt sind, müssen in allen Bereichen gewahrt und gepflegt werden; sie sind Kitt auch für die Wirtschaft bzw. von Unternehmen.

Zweitens: Überschaubare Größe - Direktheit und Selbstorganisation stärken.

Ein bewährtes Mittel, Fehlverhalten zu entdecken, besser zu vermeiden, sind gut einsehbare, überschaubare Strukturen und einfache Prozesse. Ihnen kommt eine selbstregulative Wirkung zu: Fehlverhalten wird entdeckungswahrscheinlich, Checks sind effektiver oder können sogar entfallen; Teams ersetzen den Kontrolleur. Unternehmen, die in kleine Einheiten strukturiert, relativ wenig hierarchisch organisiert sind, in denen ein persönlicher Umgang gepflegt wird, sind weniger anfällig.(17) Darum ist Großunternehmen angeraten, "kleiner" (durch Aufspaltung), dezentraler, überschaubarer, einfacher zu werden.(18) Dabei ist zu beachten, dass die Dimension der Größe widersprüchlich ist, weil in der Wirtschaft/bei Unternehmen einerseits Größe mit Macht und Technik verbunden ist, andererseits Übergröße sich nicht mit Flexibilität verträgt.(19)

Drittens: Moralisches Regime pflegen - immer wieder an Moral erinnern.

Dass die häufige Ermahnung an die 10 Gebote einen erstaunlichen Effekt hat, ist bekannt. Auch die erfolgreiche Implementierung eines Ehrenkodex erfordert moral reminders, die ständige Erinnerung an die eingegangene Verpflichtung. Im Falle der Princeton University erfolgt die Anmahnung bei jeder Prüfung mit schriftlicher Bestätigung, im Unterschied zu den im Nachgang zu der Finanzkrise aufgekommenen "Public Oaths" anderer amerikanischer Universitäten und Business Schools, die nur eine rasch nachlassende Wirkung hatten(20). Ermahnungen sind wirksamer als Strafen.

Zu einem moralischen Regime gehören: zuallererst die Einsicht, dass blindes Vertrauen eine Einladung zum Betrug und Selbstbetrug ist; dann das Verständnis, dass Moral wie ein Park ständig gepflegt werden muss; und schließlich das Befolgen bewährter Regeln: Frühe Ahndung von kleinen Vergehen, Öffentlich-machen und im Wiederholungsfall Ausschluss, soziale Ächtung, die besonders bei Spitzenpersonal wirksam ist; fallweise unangekündigte, verborgene Checks durch die Verantwortlichen.

Kontraproduktiv sind umfangreiche Haftungsausschlüsse und die kostspieligen Management-Versicherungen (D&O-Insurance). Glaubwürdig ist nun einmal nur derjenige, der für sein Tun einsteht. Es steht an, dass Unternehmen, die ein hohes moralisches Credo verkünden, ihr Haftungsregime grundlegend ändern. Obwohl es sattsam belegt ist, dass Abschreckung nur bedingt wirksam ist und strengere Strafen keine erfolgversprechende Abwehr sind, wird dennoch immer wieder darauf Rekurs genommen. Die aus der amerikanischen Praxis entlehnte Whistleblower-Methode eignet sich schlecht, weil damit Misstrauen zum Prinzip erhoben wird und weil die Hinweisgeber in den meisten Fällen einen unhaltbaren Stand im Unternehmen haben oder wie spektakuläre Fälle zeigen, sich bereichern wollen.

Viertens: Wirkungsvolle Governance als Rahmen - wohlwollend kritische Begleitung als Praxis.

Es geht um das richtige Maß. Der Ruf nach größtmöglicher Transparenz geht zu weit. Wie bei fast allen menschlichen/gesellschaftlichen Belangen kommt es auf das richtige Maß an; und dieses ist aus gutem Grund kein einheitliches und kein extremes.(21) Der Grundsatz der "kaufmännischen Sorgfalt" ist ein bewährtes Gegenmittel gegen eine grenzwertige Auslegung und Überschreitung von Vorschriften, gegen das Abschließen von Wetten wie sie sogar außerhalb der Finanzwelt üblich geworden sind. Eine wirkungsvolle Aufsicht muss kollusiven Konstellationen (Seilschaften, Kameraderie, Politisierung des Aufsichtsrates und des Betriebsrates) vorbeugen. Dass die Paritätische Mitbestimmung diesen Zweck nicht oder nur sehr eingeschränkt erfüllt, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Wiederum eignet sich VW als Beispiel.

Aus Sicht von Corporate Governance ist Hauptursache für die Verletzung "ordentlicher Geschäftsführung" die Kurzfristigkeit (Quartalsberichterstattung) kombiniert mit Incentivierung. Weil das "Quartalssyndrom" institutioneller Art, für börsennotierte Unternehmen verbindlich ist, sind Unternehmen gehalten, die Nebenwirkungen möglichst gering zu halten.

Das Leben lehrt, dass jedem Menschen eine konstruktiv-kritische Begleitung gut tut, auch wenn er sie nicht unbedingt braucht. Das früher praktizierte „Vier-Augen“-Prinzip entsprach dieser Einsicht. Gespräche mit Mentoren/Paten, überhaupt mit vertrauenswürdigen, erfahrenen Personen, sind eine allseits bewährte Praxis. Compliance dagegen ist ein formales System zur Sicherung von legalen Mindeststandards. Ausgerechnet Unternehmen, die von professioneller Seite mit Bestnoten für gute Governance und Compliance bedacht wurden - so General Motors oder Siemens, sahen sich später mit groben Verletzungen konfrontiert.

Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass die in jüngerer Vergangenheit eingeführten Regulierungen einen starken formalistisch-bürokratischen Einschlag haben; das Paradebeispiel ist der Sarbanes Oxley Act(22). Für die Implementierung und laufende Unterstützung bietet sich ein Heer von Beratern, Auditoren und Zertifizierern an, für die dieses Geschäftssegment höchst lukrativ ist. Die Kontrolle bzw. die gesetzliche Disziplinierung mit der Androhung hoher Strafen ist in der amerikanischen Tradition verwurzelt(23). Obwohl in Europa eine andere Rechts- und Regulierungstradition vorherrscht, auch andere Formen moralischer Disziplinierung Usus sind, ist die Angleichung an amerikanische Verhältnisse in vollem Gange.(24)

Zunehmend schwieriges moralisches Terrain

Seit den 1980er-Jahren zeichnete sich in vielen Publikumsgesellschaften ein moralischer Niedergang ab. Der Shareholder Value, die Umwertung des Prinzipal-Agent-Konzeptes(25) durch das Management und der bei Publikumsgesellschaften nahezu flächendeckende Einzug der Incentivierung gingen eine ethisch bedenkliche, um nicht zu sagen toxische Verbindung ein; und dies vor dem Hintergrund einer starken Individualisierung und schwindender Bindungskräfte von Gemeinschaft, eines nachgelassenen Gemeinsinns in den sogenannten hochzivilisierten Gesellschaften.

Seit Beginn des Internet vor 25 Jahren (bzw. seit der sie ermöglichenden Digitalisierung) hat sich ein neues Wirtschaftsmodell herausgebildet, nämlich das der "Digital, lntermediate & Sharing Economy". Kennzeichnend dafür sind die "Big Five" des Silicon Valley (Alphabet (Google), Amazon, Apple, Facebook, Microsoft) und die typischen "Intermediäre" (Airnb, Uber u.a.), die in ihrem Vorwärtsdrang, alles auf die Karte der Monopolisierung, auf die absichtsvolle Schaffung von Abhängigkeit und das Aufsprengen etablierter Strukturen zu ihrem alleinigen Nutzen setzen. Wenn man deren bisheriges Verhalten als Annäherung für deren moralische Verfasstheit nimmt, kommt man zu einem dezidiert negativen Urteil.(26)

Geschäftsmodelle, die darauf angelegt sind, öffentlich finanzierte Vorleistungen in Forschung und Entwicklung ohne Gegenleistung zu "privatisieren", mit möglichst wenigen Assets und Mitarbeitern "auszukommen", dafür aber eine möglichst großen Zahl von abhängigen Dienstleistern "arbeiten" zu lassen, schwerpunktmäßig in Marketing zu "investieren", sind um einen politisch beliebten Ausdruck zu verwenden, nicht nachhaltig, sondern schlicht verantwortungslos und gemeinschaftsschädlich.

Die leitende Idee sind unbedingtes Wachstum und Höchstbewertung an der Börse. Diese von Silicon Valley auf alle Kontinente ausstrahlende digitale Ökonomie hat bereits zu einer Aushöhlung von Verantwortung (und Haftung) geführt. Das Verhältnis von Rechten und Pflichten zwischen Nutzer und Anbieter/Vermittler ist extrem einseitig. Mit Blick auf die Moral ist ihre Aushöhlung schon längst Wirklichkeit und die Zukunft verheißt eine Fortsetzung dieser in ihrem Umfang unbekannten Schaffung von transregionaler/-nationaler Abhängigkeit weniger Akteure. Die Übertretung, das Ausreizen legaler Möglichkeiten und die Ignoranz gegenüber moralischen Bedenken ist vielfach zum Habitus geworden, weil die Vorteile daraus stets größer sind als es verantwortungsvolles Verhalten zulässt.

Gewiss hat man es mit einer strukturellen Verschiebung der Wirtschaftsaktivität zu tun: vom Produzierenden Gewerbe zu einem größeren Anteil des Handels, der Dienstleistungen, der Finanzindustrie und des Internet, insgesamt zu einer wesentlich größeren Nominalwirtschaft. Dass dadurch der Raum für moralische Verfehlungen größer wurde, ist einleuchtend. Nur eine ständig gepflegte Regulierung in Form von Grundsätzen - und nicht von Detailbestimmungen - wird dieser Entwicklung gerecht. Unstimmigkeiten und Ungleichgewichte, insbesondere bei der Vergütung, müssen endlich grundlegend revidiert werden(27). Leistung soll belohnt werden, wenn sie Bestand hat. Incentivierung ist ein falscher Ansatz, weil sie zu smarter oder gar betrügerischer Gestaltung einlädt.

Abschliessend

Um auf die Verfehlungen zurückzukommen: Bislang wurde auf amerikanische Weise darauf reagiert: mit Compliance, Codes und zum Teil drakonischen Strafen. Das sind genauer besehen eigentlich Ersatz- und Reparaturlösungen. Aus gutem Grund kann behauptet werden, dass aus der Finanzkrise und aus der Häufung von "Digital Crime" bisher nicht viel gelernt wurde - immerhin nach der größten Krise nach der von 1929.

Angesetzt werden muss jedenfalls an den Wurzeln, beim Charakter, auch wenn es schmerzhaft und langwierig ist. Diese Einsicht vertrat später sogar der meist sybillinisch formulierende Alan Greenspan, der frühere Vorsitzende der US-Notenbank, mit frappanter Klarheit: "But rules cannot substitute for character."

Damit langt man bei der Erziehung, der Ausbildung, der Gewissensbildung(28), der Sozialsierung der Menschen an. Es ist nun mal eine unumstößliche Beobachtung und Einsicht, dass moralisch gefestigte Menschen mit wenigen Regularien auskommen. Der in den letzten zwei Jahrzehnten wuchernde Aufwand für Überwachungssysteme hat unverkennbar eine schlechte "Moral-Rendite".

Es geht kein Weg daran vorbei, mehr Moral in Menschen zu investieren, weil nur dieses sich langfristig auszahlt. Aufwand für Kontrolle und Überwachung ist in Grenzen zu halten. Mit einer großen Zahl moralisch Instabiler vor allem in Führungspositionen ist weder ein ordentlicher Staat zu machen noch ein Unternehmen ordentlich zu führen.

Verantwortungsvolle Unternehmensführung ist gleichbedeutend mit rechtem Maß und rechtem Weg. Der Blick auf das Gemeinwohl, die Wahrung von Fairness und Transparenz, die Wertschätzung von Menschen gehören unverbrüchlich dazu. Managerismus ist das Gegenteil und darum zurückzudrängen.

 

"Es stände besser um die Welt, wenn die Mühe, die man sich gibt, die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln, zur Ausübung der einfachsten angewendet würde."
Marie von Ebner-Eschenbach

 

Literatur

  • Ariely, Dan; The (Honest) Truth About Dishonesty, HarperCollins, 2012.
  • Hopper, Kenneth & William; The Puritan Gift, Reclaiming the American Dream amidst global financial Chaos, L.B. Tauris, London 2007.
  • Drucker, Peter, F.; Managment Tasks-Responsibilities-Practices, Harper & Row, New York et. a., 1974.
  • Riesman, David; The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character, 1950; (rev. ed. 2001) Yale University Press.
 

 

Anmerkungen

(1) Studie von Nicole E. Ruedy, Foster School of Business, University of Washington;
Celia Moore, London Business School, London, United Kingdom; Francesca
Gino, Harvard Business School, Harvard University; Maurice E. Schweitzer, Wharton School, University of Pennsylvania; Journal of Personality and Social Psychology, 2013, Vol. 105, No. 4, 531–548.

(2) www.managerismus.com: Denkschrift Nr. 9: McKinsey - die Insider Company.

(3) Ein Beispiel war der hierzulande in extenso ausgebreitete Korruptionsfall im Bereich der Kommunikationstechnik von Siemens. Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, unrealistische Vorgaben und Verantwortungslosigkeit der direkten Leitung begünstigten ein straffälliges Verhalten, obwohl die Regularien zur ordentlichen Geschäftsführung implementiert waren.

(4) Die Behauptung, dass Bargeld in großen Scheinen kriminelle Praktiken erleichtert, ist ein vorgeschobenes Argument. Das Abtauchen in das "Deep/Dark Net" und die Verwendung virtueller Währungen wie Bitcoin eröffnen schwer einsehbare, große Transaktionen.

(5) Siehe dazu Denkschrift Nr. 10: Vorstandsvergütung - so kann es nicht weitergehen.

(6)Manageristisch bezeichnet eine Fehlentwicklung der Unternehmensführung und Managementkultur, die durch die Vereinnahmung des Unternehmens durch ein angestelltes Management, eine einseitige Kapitalmarktorientierung und Distanz zu den Mitarbeitern gekennzeichnet ist.

(7) Dieses Reaktionsmuster wurde von den Professoren Bruno Frey und Margit Osterloh von der Universität Zürich vor mehr als 10 Jahren analysiert: Yes, Manager Should be Paid Like Bureaucrats. (Working paper, Nr. 187, July 2005)

(8) Ausdruck von David Riesman (1909-2002), amerikanischer Anwalt und Soziologe.

(9) Academy Report: Crisis of Cheating; 2006; von Donald McCabe, Rutgers University.
(Auszug: "They not only cheat, they brag about it.")

(10) Eine ähnliche Entwicklung war auch in Deutschland bzw. der Bundesrepublik zu verzeichnen. Und in der Zeit der Wiedervereinigung kam es bei dem von der Treuhand verwalteten Volksvermögen zu einer Häufung irregulärer Vorfälle.

(11) Ein Beispiel ist der CEO von Siemens, Joe Kaeser, der sich mitunter von Journalisten begleiten lässt, die seinen Arbeitseinsatz, seine "Coolness und Weltgewandtheit bewundernd publik machen sollen; und es auch tun. In dieser Hinsicht unterscheiden sich einige Staats- und Konzernchefs auffallend wenig, dagegen sehr von Unternehmern.“

(12) Drucker, Peter, F.: Management, Revised Edition, New York, p. 287.

(13) Aussagen von zwei grundverschiedenen Persönlichkeiten, einmal von Theodore Roosvelt (1858-1919) 26. US-Präsident: "Character, in the long run, is the decisive factor in the life of an individual and of nations alike." und von Albert Einstein (1879-1955) Physiker und Philosoph: Most people say that it is the intellect which makes a great scientist. They are wrong: It is character."

(14) Siehe Denkzettel Nr. 48: "CSR oder der modische Ersatz für den Ehrbaren Kaufmann" - http://www.managerismus.com/denkzettel

(15) Siehe dazu Denkzettel Nr. 48: CSR oder der modische Ersatz für den Ehrbaren Kaufmann.

(16) Dazu Reinhard Mohn (Bertelsmann) "Bei der Auswahl der Führungsnachwuchskräfte habe ich früher auch immer auf die Persönlichkeitsstruktur und die charakterliche Beschaffenheit der Kandidaten geachtet. Angesichts des gegenwärtigen Scheiterns so vieler Manager aber muss ich gestehen, dass ich über das Problem der Eitelkeit früher zu wenig nachgedacht habe.“

(17) Ein beispielhaftes Gegensatzpaar bilden die Unternehmen W.L. Gore & Associates (US-Unternehmen der Spezialchemie) und VW. Bei Gore liegen die Betriebsgrößen (natürlich auch technisch möglich) bei rund 200 Mitarbeitern, die Mitarbeiter werden "Associates" genannt, eine klassische Hierarchie besteht nicht.

(18) Siehe Denkschrift Nr. 5: Too Big To Fail versus Rechtes Maß – Zum Dilemma übergroßer Unternehmen.

(19) Dazu sei auf den Philosophen der Überschaubarkeit, Leopold Kohr, verwiesen, der die Ansicht vertrat, dass unsere Lebenswelt nach den kleinen Maßen des Menschen strukturiert werden muss, will sie eine humane Welt werden." (nach Rupert Riedl); siehe auch Michael Breisky: http://www.managerismus.com/themen/groesse-und-komplexitaet/denkzettel-nr-16

(20) Ein anderes Beispiel für Moral Reminders sind Steuerformulare (US-Tax forms), die vor und nach dem Ausfüllen mit der Unterschrift zu versehen sind.

(21) Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) dazu: "Man sollte es nicht für möglich halten, aber auch die Tugenden müssen ihre Grenzen haben."

(22) Mit diesem US-Bundesgesetz aus dem Jahre 2002 sollte im Nachgang zu den Bilanzskandalen von Enron, Worldcom u.a. die Verlässlichkeit der Finanzberichterstattung sichergestellt werden.

(23) Der wirtschaftliche Einfluss der USA hat dazu geführt, diese Praxis auf den Rest der Welt auszudehnen. Davon profitieren vornehmlich US-Dienstleister.

(24) Die amerikanische Dominanz in Sachen Regulierung bzw. die "Drittwirkung" auf andere Wirtschaftsräume ist stetig gewachsen. Die EU hat sich in diesem Bereich keine adäquate Rolle erarbeitet.

(25) Die Prinzipal-Agent-Theorie geht von einer asymmetrischen Beziehung von Eigentümer und den von ihm Bevollmächtigten aus. Im Falle von Unternehmen hat das Management einen Informationsvorteil, weil es "näher" dran ist als die Eigentümer, die Aktionäre.

(26) Eine grobe Analyse der "Key Players" (meist Gründer, CEOs und Hauptaktionäre) wie Jeff Bezos von Amazon, Mark Zuckerberg von Facebook oder von Travis Kalanik von Uber liefert in moralischen Belangen ein nicht beruhigendes Bild.

(27) Die Regierungswechsel in Großbritannien und in den USA lassen eine Änderung erwarten.

(28) Zum Stellenwert des Gewissens sagte Immanuel Kant: "Das Gewissen ist das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofs des Menschen." Wie ein Gericht soll es niemals wankelmütig, lasch, ungerecht sein.

 

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