„Hat einer dreißig Jahr vorüber, so ist er schon so gut wie tot", lässt Goethe den jugendlichen Baccalaureus im Faust schwadronieren. Auch wenn heute die Grenze allgemein nicht mehr so eng gezogen wird, herrscht in vielen Organisationen noch immer die Auffassung: Was einer mit Ende 40 karrieremäßig nicht geschafft hat, darauf braucht er sich keine Hoffnung mehr zu machen. Dies gilt natürlich nicht für die Leitungsebene, sondern für Fachexperten, insbesondere Ingenieure; ihnen wird weit eher als Juristen oder Kaufleuten unterstellt, sie seien fachlich nicht mehr auf dem neuesten Stand; zu wenig flexibel, was neue berufliche Herausforderungen betrifft, und nicht zuletzt zu teuer im Vergleich zu Nachwuchskräften.
Verbreitete Scheinlösungen
Wie gehen typischerweise Großunternehmen an dieses Problem heran? Man schiebt dem Ingenieur, der sich mit Mitte 50 nach seinen Perspektiven erkundigt, ein Faltblatt zum Thema Altersteilzeit über den Tisch. Gewiss keine zukunftsfähige Lösung! Nicht nur, dass ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben im Hinblick auf die kommende Rente mit 67 volkswirtschaftlich ebenso wie für den Einzelnen nicht mehr tragbar sein wird, hat diese Scheinlösung auch für die Unternehmen längerfristig gravierende Nachteile:
Erstens: Wertvolles Know-how geht verloren.
Gerade bei langjährigen Entwicklungsprojekten oder im Projektmanagement von Großanlagen kann dies zu erheblichen Schwierigkeiten führen. Eine rechtzeitige und vollständige Wissensweitergabe durch computerbasierte „Expertensysteme" hat sich bisher als nicht praktikabel erwiesen.
Zweitens: Kunden schätzen eine kontinuierliche Betreuung durch kompetente Ansprechpartner. Dies gilt besonders für Kulturen mit ausgeprägtem Senioritätsprinzip, wie arabische Länder oder Asien.
Drittens: Perspektivlose Weiterbeschäftigung beeinträchtigt die Motivation.
Dies kann zu einer Leistungsabnahme führen und das Betriebsklima schädigen.
Viertens: Jugendliche mit Interesse am Ingenieurberuf werden abgeschreckt.
Intelligente Lösungen notwendig
Das geht nicht ohne Abrücken von bisher als sakrosankt geltenden Grundsätzen. Diese sind das Optimieren des „Wirkung zu Aufwand" Verhältnisses primär durch Personaleinsparmaßnahmen, eine Steuerung nur nach Abteilungszielen (und nicht nach dem Unternehmensinteresse) und das Führen nach dem Prinzip Hoffnung, also durch vages „In-Aussicht-Stellen" von Möglichkeiten.
Notwendig ist eine aktivierende, alle die genannten Aspekte integrierende Personalarbeit.
Die folgenden Leitlinien sollten dafür maßgeblich sein.
Fachliche Kompetenz aktuell halten
Ingenieure sind es gewohnt, stetig weiter zu lernen; es macht ihnen fast ausnahmslos Spaß, da es ihrer natürlichen Neugierde entgegen kommt und ihnen in Anbetracht des technischen Fortschritts schon im Blut liegt. Deshalb macht es in aller Regel keinen Sinn, einen fünfzigjährigen Mitarbeiter zum „alten Eisen" zu zählen, für den sich eine Weiterbildung nicht mehr lohnt. Käme jemand auf die Idee, eine Produktionslinie nicht zu modernisieren, nur weil sie vielleicht nicht mehr als fünf oder zehn Jahre genutzt werden kann? Voraussetzung ist allerdings eine gründliche Einschätzung der Fähigkeiten und der Erfahrung des Mitarbeiters und seiner Einsatzmöglichkeiten im Unternehmen - und das nicht nur kurzfristig und im Rahmen der jetzigen Abteilung. Die Frage darf nicht lauten, wie man möglichst viel einsparen kann, sondern wie die Fähigkeiten des Mitarbeiters möglichst umfassend für das Unternehmen genutzt werden können.
Eine Analogie: Deutschland ist im Weltmarkt nicht dadurch erfolgreich, dass seine Produkte möglichst billig angeboten werden, sondern weil der besondere Kundennutzen die höheren Preise rechtfertigt – eine Erkenntnis, die sich direkt auf eine hochqualifizierte Mitarbeitergruppe wie Ingenieure übertragen lässt.
Von den Mitarbeitern muss natürlich ein Eigenbeitrag zur Weiterbildung verlangt werden. Doch dies ist nur sinnvoll, wenn für den Einzelnen eine Perspektive erkennbar ist – und diese kann im Regelfall der Weiterbeschäftigung nur durch das Unternehmen definiert werden. Im Rahmen einer solchen individuellen Einschätzung kann sich auch ein völlig neues Einsatzfeld auftun. Das erfordert bei den „Personalentwicklern" eine gute Übersicht und Vernetzung im Unternehmen über Abteilungs- und Bereichsgrenzen hinweg, ggf. sogar im Umfeld der Branche. Das Eingehen auf die persönliche Situation des jeweilig Betroffenen ist dabei Voraussetzung.
Flexibel neue Herausforderungen annehmen
Gewiss gibt es Mitarbeiter, die sich im fortgeschrittenen Stadium des Berufslebens davor scheuen, sich völlig neuen Aufgaben zu stellen. Häufig resultiert eine Zurückhaltung aus schlechten Erfahrungen in Projekten oder Arbeitsgruppen, die aus übergeordneten Gründen eingestellt wurden oder deren Ergebnisse Umorganisationen zum Opfer fielen. Dazu gehören auch negative Erfahrungen mit Aufgabenwechseln, die im Unternehmensinteresse erfolgten, und den dabei gemachten, jedoch nie eingelösten Verheißungen. Wenn klar ist, dass voller Einsatz bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben nicht nur gefordert, sondern auch gefördert wird, wächst das Engagement. Hochqualifizierte Mitarbeiter wie Ingenieure wollen ihre Fähigkeiten einbringen.
Voraussetzung ist allerdings, dass es unternehmensintern auch einen „Markt" für ihre Fähigkeiten – neudeutsch Skills - gibt, die anders sind als die von Berufsanfängern. Zu diesen Eigenschaften gehören eine größere Erfahrung, ein Wissensnetzwerk und ein besseres Gespür für das Machbare. Führungskräfte können dabei allerdings die unbequeme Erfahrung machen, dass ältere Mitarbeiter schwerer für schlecht geplante Projekte oder Aufgaben mit zweifelhaftem Ausgang zu gewinnen sind. Aus Sicht der Betroffenen ist es nur zu verständlich, denn was ein Berufsanfänger noch unter Risikobereitschaft und Erfahrungsgewinn verbuchen kann, wird einem erfahrenen Mitarbeiter im Falle des Scheiterns negativ angerechnet werden. Hinzu kommt die naturgemäß weitaus kürzere Zeitspanne, in der sich ein Engagement für Ältere auszahlen muss. Als mögliche Lösung bieten sich hier Projekte an.
Hohes Gehaltsniveau durch Leistung rechtfertigen
In aller Regel steigt der „Preis" der Mitarbeiter mit dem Alter – ein Effekt, der sich bei einem absehbar späteren Renteneintrittsalter verschärft. Da einerseits Beförderungen oder Höhergruppierungen weniger wahrscheinlich werden, andererseits Gehaltskürzungen nicht üblich sind, ergibt sich für hochqualifizierte Fachkräfte auf Sachbearbeiterebene ein demotivierendes Dilemma: Seitens der Führungskräfte als „zu teuer" angesehen, empfinden sie nicht selten ihre Situation als aussichtslos und fremdbestimmt. Hier geht es darum, diesen Mitarbeitern Aufgaben zu bieten, die ihren besonderen Fähigkeiten entsprechen, aber zeitlich klar umrissen und ggfs. einkommensmäßig attraktiv sind.
Als Option kommt das Heranführen an Führungs- und Beratungsaufgaben in Teams und Projekten in Frage, die zeitweilig einen besonderen Einsatz erfordern – auch im Ausland. Oft sind ältere Mitarbeiter, wenn die Kinder aus dem Hause sind, durchaus für neue Herausforderungen offen. Entscheidend dabei sind aber klare Planungen und verbindliche Absprachen; für die Personalarbeit eine anspruchsvolle Aufgabe. Bereits eine solche Möglichkeit, besondere Projektleistungen finanziell zu würdigen, wirkt der Resignation entgegen. Andere Mitarbeiter, denen das Einkommen nicht mehr so wichtig ist, können durch die Übertragung interessanter Teilaufgaben, die selbständig erledigt werden, oder durch das Einräumen eines größeren Entscheidungsspielraums angespornt werden, der das Unternehmen nicht einmal etwas kostet. Zu denken wäre dabei an das selbständige Einteilen der Arbeitszeit, an Freiräume für das Verfolgen eigener technischer oder wissenschaftlicher Ideen, die Tätigkeit als Lehrbeauftragte bis hin zum selbständigen Entscheiden über den Besuch von Tagungen und Fortbildungen.
Das Alter neu denken – und danach handeln
Die bisher mangelnde Nutzung des Potenzials älterer Mitarbeiter bis zur Rente ist nicht zukunftsfähig. Gerade bei Ingenieuren bieten sich dafür vielfältige Ansatzpunkte. Die Spannweite reicht von fachlichen Weiterbildungsmaßnahmen, die auch Zeiträume von Monaten umfassen sollten, über den Einsatz in zeitlich befristeten Projekten bis hin zu der Übernahme von beratenden, koordinierenden Aufgaben; bei letzteren zählen Seniorität und Erfahrungswissen mehr als die Kenntnisse der neuesten Softwareversionen. Denkbar ist auch ein Einsatz im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, als Schnittstelle zu NGOs, Verbänden oder in internationalen Organisationen, in denen Fachexpertise aus dem Bereich der Industrie bei der Entscheidungsfindung einen wertvollen Beitrag leisten kann – auch im Sinne des Unternehmens.
Führungskräfte müssen an Leistungssteigerung, nicht an Kostensenkung gemessen werden.
Vor dem Hintergrund des „demografischen Faktors" in den Unternehmen ist es Zeit, sich dieser Aufgabe zu stellen. Es braucht mehr erfahrene und entsprechend geschulte Fachleute und motivierte Führungskräfte, die danach gemessen werden, ob sie auch ältere Mitarbeiter „entwickeln" und fördern. Personalentwicklung muss auch den Übergang bzw. den Abschluss der Berufslaufbahn umfassen.
Ein Vergleich dazu: Eine Patentabteilung wird auch nicht danach bewertet, wie viele Patentfachleute sie abgebaut und wie viele Schutzrechte sie nicht angemeldet oder aufgegeben hat, sondern wie gut sie das geistige Eigentum des Unternehmens mehrt, verteidigt und verwertet.
Ältere Mitarbeiter stellen für Unternehmen einen Erfahrungsschatz dar. Als Anregung kann der im gesellschaftspolitischen Raum bewährte SES (Senior Expert Service) dienen, in dem sich erfahrene Ruheständler ehrenamtlich engagieren und in unterschiedlichsten Bereichen (z.B. Entwicklungshilfe) tätig werden. Dieses Prinzip lässt sich durchaus auch auf eine unternehmensinterne „Eingreiftruppe" für Sonderaufgaben übertragen. Eine solche firmenspezifische Erschließung des Erfahrungswissens älterer Mitarbeiter hat zwei Vorteile: Erstens wird Expertenwissen erfasst und in kritischen Situationen zur Verfügung gestellt und zweitens fühlen sich die Seniors herausgehoben. Schwierig? Vielleicht. Aber der Versuch ist allemal angezeigt!
Dr. Frank S. Becker, 4. März 2014