Vor zehn Jahren erschien die Denkschrift Nr. 8: „Der industrielle Niedergang der USA – Lehren für Europa“. Darin wurde die Malaise der Fertigung von Hardware in den USA beschrieben. In dem aktuellen Beitrag wird der Großversuch der USA zur Wiedergewinnung verlorenen Fähigkeiten kritisch kommentiert.
Unter Berücksichtigung von China, der ‚factory of the world‘, werden Empfehlungen zur Sicherung der Produktion in Deutschland und Europa gegeben.
Mit „The Great Reversal“ (Die große Umkehr) ist eine Epochenwende gemeint, die in erster Näherung eine Erneuerung der amerikanischen Industrie bedeutet und im Weiteren eine geopolitische Neuprofilierung.(1)
Anbrechen einer „Manufacturing Renaissance“?
Im vergangenen Jahr sorgte die US-Regierung für zwei Donnerschläge, mit dem CHIPS and Science Act (9. Aug. 22) mit 280 Mrd. USD(2) und dem IRA (Inflation Reduction Act (16. Aug. 22) mit 738 Mrd. USD(3), wovon 391 Mrd. USD auf die Energiegewinnung (Clean Energy) und Maßnahmen gegen den Klimawandel, v.a. auf die Elektromobilität, entfallen. Nach 40 Jahren der Vernachlässigung kam es zu einem späten, unerwartet heftigen Erwachen. Grund ist die ‚Nationale Sicherheit‘.
Mit ihrer Bedrohung im Blick einigte sich eine ansonsten entzweite Parteienwelt und leitete die Wende ein - mit viel Geld und versehen mit protektionistischen Kautelen und arbeitsrechtlichen Auflagen. Den Richtungsumschwung bewirkten die Schocks der Jahre 2020 - 2022 mit Corona und das Bewusstwerden einer unheimlich gewordenen Abhängigkeit von China. Die Systemrivalität hatte deutlich Gestalt angenommen. Fehlende Masken und nicht beschaffbare Inhalationsgeräte, später ausbleibende Chips und Bauteile, vor allem für die Autoindustrie, mangelnde Konsumgüter, allseits unterbrochene Lieferketten führten einer bis dahin selbstsicheren Gesellschaft ihre Verletzlichkeit vor Augen. Die nun in die Wege geleitete Industrieförderung ist ein Targeting, das einen großen Nachholbedarf in bestimmten Branchen ausgleichen als auch breite Impulse zur Erneuerung der Industrielandschaft bringen soll. Auch wenn man frühere Rüstungs-, Kriegs- und Raumfahrtprogramme einbezieht, gab es seit dem „New Deal“ (1933-38) kein vergleichbares Paket. Ein solches hat bereits Investitionszusagen von rund 200 Mrd. USD von amerikanischen Mikroelektronik-Unternehmen und überwiegend asiatischen Halbleiterunternehmen ausgelöst. Die in den USA bereits günstigen Energiekosten(4) mit der Aussicht auf zunehmend umweltfreundliche Energiegewinnung geben Unternehmen der Chemie-, Papier- und Stahlbranche weiteren Auftrieb und locken zusehends deutsche Hersteller an. Ein Spillover-Effekt auf viele energieintensive Branchen ist zu erwarten. Damit ist jedoch ein enormes strukturelles Problem nicht verschwunden: der schlechte Zustand der produzierenden Industrie. In dem nun geförderten Bereich der Erneuerbaren Energie gibt es in der Solartechnik keinen amerikanischen Hersteller, bei Windkraftanlagen nur einen namhaften.(5)
Missliche Vergangenheit
Während China in den vergangenen 40 Jahren das Produzieren lernte – und darin Exzellenz erreicht hat, haben es die USA in vielen Bereichen verlernt, sind industriell abgestiegen. Ein Indiz soll genügen: Seit der Jahrtausendwende gingen rund fünf Millionen Jobs verloren, was einem Viertel der Industriebeschäftigten entspricht und einem gigantischen Erfahrungsverlust gleichkommt.(6) Die gesellschaftlichen Auswirkungen waren dramatisch. Der „basket of deplorables“(7) (Korb der Bedauernswerten) wuchs stark an, trotzdem von den Medien wenig beachtet und von der Politik lange nicht wahrgenommen.
Schwer zu verstehen ist, dass die Wellen der Abwanderung von Produkten, die in Amerika entwickelt und anfänglich auch hergestellt wurden, so wenig Anlass zur Sorge waren: Radios und Fernseher, Ventilatoren, Waschmaschinen; dann, PCs, Konsolen, Handys, Tablets, Solar Panels hauptsächlich nach China und Chips nach Taiwan. Dazu kamen IT Services, die schwerpunktmäßig in Indien landeten. Die Deindustrialisierung im Midwest und im Rust Belt lag zwar seit Langem offen zu Tage, doch die Zugewinne im Finanzsektor, in der Internetbranche und bei Dienstleistungen an den Küsten und Teilen des Südens überwogen. Der Konsum stieg - ungestört von Outsourcing und Offshoring - weiter an. Das verdeckte die schleichende Wirkung der Deindustrialisierung.
Schwer zu verstehen ist das Aufkommen einer Arbeitswelt, in der das Management gegenüber den Gewerkschaften die Oberhand gewinnen konnte und die neue Machtfülle an erster Stelle für sich verwendete.(8) Anstelle der gemeinsamen Anstrengung, Probleme zu lösen, ging man ihnen aus dem Wege v. a. durch Verlagerungen ins Ausland. Die fortschreitende Finanzialisierung in der Wirtschaft - symbolisiert durch den Aufstieg der CFOs und das Verschwinden von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern aus der Leitung von Konzernen – und das grassierende MBA-Curriculum wurden zu Kennzeichen der US-Wirtschaft. Die Politik wiederum machte sich zunehmend zum Gefolgsmann der sich fortlaufend konzentrierenden Wirtschaft, damit der Großunternehmen.
Chronisches Managementversagen
Mit Beginn der 1990er-Jahre wurde die Produktion für das Management mehr und mehr zur Nebensache und zur Black Box. Nach allgemeinem Bekunden trug die Produktion unterproportional zur Wertschöpfung bei, wurde als austauschbar eingestuft, konnte bedenkenlos ausgelagert werden. Die argumentative Basis dazu lieferte die Lehre von den Kernkompetenzen(9). Sie breitete sich rasch aus. In der Folge kam es zu einem regelrechten Run auf das Outsourcing/Offshoring anscheinend unwichtiger Komponenten, Prozesse und Funktionen, meist sogar von ganzen Fertigungen. Das Financial Engineering übernahm fortan die Regie. Outsourcing/Offshoring wurde als der smarte, schnelle Ausweg aus der lästigen Fertigung erkannt. Tom Peters, ein damaliger Management-Guru, gab den Slogan aus: “Outsourcing everything except your soul”.(10) Eifrige Verbreiter wurden die nach Kochbuch-Lehrenden in den Business Schools, die nie oder selten in der „Küche“, in einer Fertigung gestanden sind. Als unverzichtbare Helfer boten sich dann die Strategieberater an, vornehmlich McKinsey(11); sie waren auf eine Bonanza gestoßen. Der Herdentrieb wurde übermächtig. Unverständnis gepaart mit Arroganz verhinderte eine breite Sicht auf die Verlagerung von Fertigungen und eine solide Abschätzung ihrer Folgen. Die Leidtragenden, die Arbeiterschaft, wurde von diesbezüglichen Entscheidungen ferngehalten. Traditionell pflegte das Management keinen konstruktiven Austausch mit der Belegschaft, wusste somit nicht vom Erfahrungswissen, vom ausbleibenden Feedback für die Produktentwicklung, vom Abfluss von Know-how und der damit dauerhaft verbundenen Schwächung der Innovationsfähigkeit. Dass auf lange Sicht mit der Verlagerung das Geschäft „mitauswandert“, wurde nicht gesehen, auch nicht, dass auf diese Weise neue, aggressive Anbieter angelockt werden.
Im Management nicht ungewöhnlich entwickelte sich dieser Short-cut zu einem modischen Trend. Nach Beobachtung von Insidern wurde in mehr als der Hälfte der Verlagerungen nicht gründlich überlegt und kalkuliert. Den Aspekten „Speed, Agility, Innovation“ wurde ohnehin kaum Beachtung geschenkt.
Zu simple Logik
Das Kalkül ist einfach, scheinbar zwingend: Einziges Kriterium ist der direkte Kostenvorteil, zumeist auf den Fertigungslohn bezogen, wenn es sich um lohnintensive Produkte und Dienstleistungen handelt. In der Regel ist ein großer Faktorkostenunterschied schon ausreichend für eine Outsourcing-Entscheidung. Da die Produktion in aller Regel kapitalintensiv ist, wird den einfach erfassbaren Kapitalkosten große Bedeutung zugemessen. Aus Sicht des Shareholder Value ist nämlich die Kapitalintensität „Profit-Killer“ Nummer eins(12).
Das amerikanische Management lässt sich neben dem Kostenargument von der Überlegung leiten, wie profitabel einzelne Wertschöpfungsstufen sind. Fast immer sind dies die Produktentwicklung (Product Design) und das Marketing. Demzufolge konzentriert man sich auf diese beiden und sondert das aufwändige Fertigen aus.(13)
Was bei dieser einseitigen Betrachtung übersehen wird, sind die sogenannten hidden costs, worunter das mit einer Verlagerung verbundene Qualitätsrisiko, der Verlust an Fähigkeiten in und um die Fertigung, das Schwinden der Vergabefähigkeit bei gleichzeitigem Aufbau von Fertigungs- und Produkterfahrung beim Auftragnehmer, die fehlenden Innovationsimpulse aus dem Fertigungsprozess und die wachsende Gleichheit der Produkte. Stets wird ignoriert, dass die Fertigung eine eigene, wichtige Technologie darstellt. Das gilt im besonderen Maße für anspruchsvolle Produktionen, die höchstreine Stoffe und viele höchstpräzise Prozessschritte erfordern, wie zum Beispiel bei der Deep-UV-Chip-Herstellung.
Übersehene Wirkungen - Ignorierte Ursachen
Fertigungen bzw. Fabriken erzeugen einen Multiplikatoreffekt an Beschäftigung, weil an sie Zulieferer und Dienstleister bis zum Caterer angebunden sind. Wird eine Fertigung verlagert, entfallen diese in der Regel. Durch die in vielen Fällen überstürzte Aufgabe von Fertigungen in bestimmten Regionen wurden Zulieferstrukturen zerstört - ein Dominoeffekt erzeugt, der einem eigennützigen und meist fernab in Metropolen domizilierten Management gleichgültig ist. Die Deindustrialisierung ganzer Landstriche erklärt sich aus einer solchen Distanz.
In den USA wurde - von Ausnahmen(14) abgesehen - die berufliche Ausbildung in den letzten 50 Jahren immer mehr vernachlässigt. Die Anstellung von billigem, angelerntem Personal für die Fertigung ist ebenso landesüblich wie das Hire & Fire bei konjunkturellen Ausschlägen und Absatzschwankungen. Das ist ein entscheidender Unterschied zu China, Japan und Mittel- und Nordeuropa. Die Geringschätzung der Produktion zeigt sich in Technischen Colleges und Universitäten, wo fertigungstechnische Curricula und Lehrstühle inzwischen Exoten sind.
Im Vergleich zu dem ungebrochenen Wachstum bei der MBA-Ausbildung hat das Ingenieurstudium keine große Anziehungskraft: weniger als die Hälfte der Undergraduates und von diesen überproportional viele asiatische in den Fächern Computertechnik, Software und Mathematik. Noch ein Vergleich: In China studieren fast 10-mal – das sind rund 600.000 -, in Indien etwa 5-mal so viele in den vielfältigen Disziplinen des Ingenieurwesens. Dieser Status lässt den Schluss zu, dass amerikanische Studenten dorthin tendieren, wo leichter, schneller mehr Geld verdient wird. Damit ist der Faktor genannt, der mit Geld nicht zu beseitigen ist. Den USA zu Hilfe kommt, dass ausländische, technisch interessierte Talente nach Amerika strömen und amerikanische Unternehmen sich kostengünstig ihrer in Europa (zunehmend in Bayern und Sachsen) und in Asien bedienen. Die Füllung der Lücke wird auf diese Weise zum einseitigen Vorteil der USA ausgelagert. Die einheimische Industrie und somit der Mittelstand haben vor allem im Bereich der Digitalisierung das Nachsehen.
Das Jahr 2012 präsentierte völlig überraschend das Testat des Verlustes der Fertigungsfähigkeit bei einem elektronischen Massenprodukt. Der Versuch, einen Apple Desk Computer, eines im Vergleich zu dem iPhone einfachen Produktes, scheiterte kläglich. Für die Regierung Obama war das dennoch kein Anlass, die Ursachen anzugehen. Der signifikante Flop wurde von keiner Seite weiter untersucht und war vergessen.
Die USA - wie übrigens auch England - haben eine profunde Tradition, an wissenschaftlichen Durchbrüchen zu arbeiten. Und im industriellen Bereich verzeichnete das Land eine bis in die 1980erJahre reichende erfolgreiche Ära der Massenproduktion. Der Erfolg schwand zuerst bei einfachen Waren, dann bei anspruchsvoller Hardware. Fortgesetzt wurde die anspruchsvolle Massenfertigung überwiegend von China. Der dortige komparative Vorteil liegt in einer qualifizierten und disziplinierten Arbeiterschaft und einem großen Reservoir an Ingenieuren. Mit dieser Humanausstattung ist China wie kein anderes Land in der Lage, neue Branchen und Technologien in kurzer Zeit hochzufahren und zu beherrschen. Beispiele sind Elektromobile, Batterien, Smart Phones, Solar Module und viele kritische Komponenten wie Magnete für Windkraftanlagen.
General Electric - Outsourcing-Desaster
Die Langzeitindustrie-Ikone wurde ab Mitte der 1990-er Jahren zum „Pioneer of outsourcing“. Urheber war der legendäre CEO Jack Welch mit seiner Fixierung auf den Shareholder Value und dem Diktum „Fix it, sell it or close it“. Folge der ausschließlichen Kapitalmarktorientierung war die Schließung von rund zwei Dutzend Fertigungen in den USA und Verlagerungen hauptsächlich nach China. Sein Nachfolger Jeffrey Immelt setzte das Outsourcing/Offshoring fort, forcierte es vor allem bei IT-Services nach Indien. 2012 war der Umkehrpunkt. Von da an galt die Erkenntnis: „Outsourcing is quickly becoming mosty outdatet“.
Der Appliance Park, die „GE-Hausgeräte-Stadt“ in Louisville, Kentucky steht stellvertretend für das Auf, aber noch viel mehr für das Ab einer Reihe traditionsreicher Fertigungsstandorte. Im Jahre 1951 erbaut, lag die Beschäftigung 1955 bei 16.000, erreichte die Spitze 1973 mit 23.000. Welch wollte das Haushaltsgeschäft, ein Household Brand für amerikanische Familien, schließen, Immelt wollte es 2008 verkaufen. Weil das nicht gelang, wurde ein Turnaround versucht. Zum ersten Mal nach 55 Jahren wurde eine neue Fertigungslinie für ein aus China zurückgeholtes Heißwassergerät eingerichtet. Man begann mit Lean Manufacturing und hatte mit dieser aus Japan stammenden, eigentlich schon lange in der deutschen Industrie erprobten Methode kleine, ermutigende Erfolge, allerdings bei einer Beschäftigung von nur mehr 2.000 Mitarbeitern.
Die vom Kapitalmarkt geforderte Restrukturierung und Portfoliobereinigung erzwangen die Trennung vom traditionsreichen Hausgerätegeschäft. 2016 kam der Verkauf an den führenden chinesischen Hersteller Haier zustande. Für Standort und Geschäft einschließlich Marke wurden 5,6 Mrd. USD erlöst. Die neue GE Appliances (GEA), „a Haier company“, versprach, 450 Mio. USD zu investieren.
Die wenigen erhaltenen Fertigungsstandorte haben nurmehr eine Rumpfgröße von 10 Prozent der Beschäftigten des Status quo ante. Die ehemals von GE geprägten Company towns – so Lynn, Mass.; Schenectady (NY); Salem, Va. haben sich in Teilen zu Industriebrachen verwandelt. Ehemals stolze Communities lösten sich auf. Einige Ex-GE-Leute hoffen noch immer auf ein Make America great again.
Zuletzt 2021 wurde in Medien daran erinnert, dass GE ein „American Brand“ sei. Gewerkschaften warfen dem Unternehmen vor, viele staatliche Vergünstigungen in Anspruch genommen, wenig bis keine Steuern bezahlt, große Rüstungsaufträge erhalten zu haben. Und stellten die Frage in den Raum, wo noch ein Rest von Loyalität zu finden sei.
Schwierige Lehren für Europa/Deutschland
Europa, insbesondere Deutschland, ist in eine verzwickte Lage geraten, eingezwängt zwischen China, der „manufacturing superpower“ (Initiative Made in China 2025) und den USA, dem Monopolisten des Internets (außer China), des Dominators des Parabusiness (Consulting, Investmentbanking, Management Services) und des Innovationsführers im Hightech. Diese anfällige Stellung hat sich seit Langem abgezeichnet. Bis vor der Corona-Krise wurde sie weder von der Politik in Berlin und Brüssel noch von den zahlreichen Denkfabriken, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften als ernsthafte Bedrohung gesehen und kommuniziert.
Die dafür passende Bezeichnung ist kollektive Ignoranz: eine Erscheinung, die den Vorteil hat, dass sie keinen direkten Adressaten hat, nicht Brüssel, das bei Chips den Produktionsschwund Europas von rund 20 Prozent Weltmarktanteil vor 2000 auf zur Zeit fünf Prozent hinnahm, nicht Berlin, das die Abhängigkeit der „Apotheke der Welt“ bei vielen Vorprodukten und Medikamenten nicht wahrnahm, dafür unablässig für die Autobranche lobbyierte, die mit ihrer China-Präsenz zu einem formidablen Klumpenrisiko wurde. Die Liste der Versäumnisse ist erschreckend lang. Einmalfälle großartiger Innovation wie der mRNA-Impfstoff haben es in der gegenwärtigen Medien- und Politikwelt in sich, von strukturellen Schwächen und chronischen Fehlentwicklungen abzulenken. Die Ursachen für die Abwanderung der damals von den Grünen gepriesenen Solartechnik nach China bleibt für viele ein Rätsel, das auf eine Post Mortem-Analyse wartet.(15)
Was steht an
Auf der Hand liegt die Einsicht, dass es keinen schnellen, einfachen Ausweg aus diesem notorisch unterschätzten Dilemma gibt. Vorneweg: Unverzichtbar ist eine innovative Grundstimmung, eine Aufbruchstimmung. Eine solche gab es Mitte der 1980er-Jahre als Siemens mit der Aufholjagd in der Mikroelektronik begann, namentlich dem MEGA-Projekt zur Herstellung von Megabit-Speicherbausteinen.(16) In einer vom Forschungschef von Siemens, Heinz Beckurts konzertierten Aktion mit Hochschulen, der Fraunhofer-Gesellschaft, Maschinen- und Materialherstellern und mit Philips wurde die Grundlage für eine damals wettbewerbsstarke Hableiterbranche gelegt. Ergebnisse waren Infineon mit der Gründung des Werkes 1994 in Dresden , Silicon Saxony in und um Dresden(17) und indirekt ASML, der überragende Spin-off von Philips.(18)
Im Folgenden wird auf frühere Erkenntnisse (Denkschrift Nr. 8) zurückgegriffen und es werden Überlegungen zu einer Vorwärtsstrategie angestellt, die an anderer Stelle weiter ausgeführt werden sollen.
Erstens
Unzweckmäßig ist, andere einfach kopieren zu wollen, zumal wenn man nicht schnell reagieren kann. Aufgrund der in die Hunderttausende gehenden, schnell verfügbaren Fachkräfte in China, seiner riesigen Binnenmarktgröße und der massiven, langfristig ausgerichteten staatlichen Unterstützung auch über Handelsschranken ist es schwierig und wird noch schwieriger, in Europa neue Technologien rasch hochzuskalieren und zu neuen Geschäften/Branchen zu machen. Im Vergleich zu USA hat Europa nicht die Anziehungskraft für Wissenschaftler, in vielen Bereichen nicht den nötigen Ehrgeiz, Spitzenleistungen zu erzielen. Beim Internet ist die Dominanz der US-Player abschreckend groß; sie setzen alles dran, naturwissenschaftliche und Ingenieur-Kapazität in Europa abzuschöpfen. Jüngste Beispiele sind die Milliardeninvestitionen von Apple, Google und von Intel in Deutschland.
Die jüngsten amerikanischen Maßnahmen des Targetings, der gezielten, starken Förderung von Chips & Renewables, verleiten zur Nachahmung. Die großzügige Gewährung von Subventionen mag den Anschein politischen Wollens erwecken, für gute Lösungen braucht es aber mehr, vor allem unternehmerischen Drive, Umsicht und Kooperationswillen.
An einem spezifischen europäischen Ansatz führt kein Weg vorbei. Doch davon ist wenig erkennbar. Notwendig ist ein Industriekonzept, das zumindest für das nächste und übernächste Dezennium das Profil der Technologieentwicklung und Industrieproduktion über die EU hinaus für Europa skizziert. Ein Mindestmaß an Autonomie und eine abgestimmte Kooperation mit den USA geben den Rahmen ab. Für die Erstellung und Weiterentwicklung eines Zielbildes „Europa 2040“ ist eine übernationale, hochkarätige Arbeitsgruppe einzusetzen.
Zweitens
Ein umsichtiges, langfristig perspektivisches Vorgehen ist notwendig. Nachdem die über die letzten dreißig Jahre sich verstärkende Kapitalmarktorientierung den schleichenden Niedergang nicht verhindern mochte, ist eine mehr auf regionale, nationale Stärken abstellende Strategie gefragt. Nach bisherigen Erfahrungen kommen die Programme der EU regelmäßig zu spät, sind zu teuer, zu technokratisch und subventionsträchtig. Hier ist eine Umstellung vonnöten. Die Verbände in Deutschland, allen voran der BDI, sollten wieder stärker mitgestalten, koordinierend wirken und sich weniger auf die Wahrung von Interessen beschränken. Und ob das BMWK anstelle transformatorischer Interventionen wieder ordnungspolitisch gestaltend wird?
Die Vielfalt Europas zeigt sich in vielen Clustern, die über besondere, schwer nachahmbare Fähigkeiten und Verbundwirkungen verfügen. Der Mikroelektronik-Cluster Dresden ist eine gute Referenz. Cluster eignen sich für das Andocken weiterer Kooperationspartner aus Wissenschaft und Technologie, zur Bildung von Fertigungsverbünden und für das Nearshoring. Dabei ist auf die Selbststeuerung zu achten. Cluster sollten finanziell und organisatorisch unterstützt, von einer Kooperationsstimmung getragen, aber von zentralistischen, bürokratischen Eingriffen verschont werden. Eine gründliche Analyse gut performender und auch gefloppter Cluster soll die Regeln ergeben.
Drittens
Eine bekannte Stärke, insbesondere Deutschlands, ist die duale Ausbildung in Handwerk und Industrie. Deren abnehmender Attraktivität ist entgegenzuwirken, da sie eine hohe Beschäftigung verspricht und viele unternehmerische Talente entfalten hilft – im Unterschied zu der ausufernden Akademisierung in gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die Förderung der MINT-Ausbildung und der vielen technischen Fachrichtungen ist ein Muss. Wegen der ungünstigen demografischen Entwicklung und einer verbreiteten Zukunftsskepsis hat sich bereits eine große Lücke aufgetan, die noch größer werden wird.
Eine anerkannte Stärke sind die Erfahrungs- und Wissensnetzwerke. Sie helfen neue Technologien in die Industrie zu transferieren und neue Methoden anzuwenden. An vorderster Stelle sind dazu die Fraunhofer Gesellschaft und die Steinbeis-Stiftung zu nennen, die zu einem europäischen Modell werden sollten; ein solches Muster des Technologie- und Methodentransfers ist leichter adaptierbar als die duale Ausbildung.
Viertens
Grundvoraussetzung für funktionierende Wertschöpfungsketten ist die sichere Versorgung mit Rohstoffen, Komponenten, Zwischenprodukten. Wo es sinnvoll ist, sollte die EU ihre Einkaufsmacht nutzen und länderübergreifend risikoarme Lösungen finden und aufrecht erhalten. Dass es bis vor Kurzem keinen Risikoatlas und entsprechende Notfallpläne für kritische Erzeugnisse gab – man denke nur an die fehlenden Medizinprodukte infolge der Corona-Epidemie – offenbarte ein breites Maß an Nichtvorbereitung ganzer Branchen, der Regierungen ohnehin. Die Souveränität bzw. Autonomisierung Europas in kritischen Bereichen muss elementarer Teil einer umfassenden Sicherheitspolitik werden. Der entsprechende Nachholbedarf ist groß, die Dringlichkeit ohnehin. Die bisher ausgebliebene Handlungsfähigkeit der EU ist dringend gefordert.(19)
Die Verkäufe von Technologieunternehmen wie KUKA und Krauss-Maffei nach China oder die sehr zögerliche Förderung der Quantenkommunikation(20) sollten Anlass sein, den in Kauf genommenen Technologieabfluss einzuschränken. Europa muss neues Maß an die Zusammenarbeit mit dem Systemrivalen China anlegen. Zudem sind neue Kooperationen mit geeigneten Partnern wie Japan zu intensivieren und anzugehen: mit Südkorea, Malaysia, Singapur, Vietnam, der Ukraine.
Abschließend
Die USA lehren, dass der Verzicht auf Wertschöpfung aus Fertigung nicht nur wertvolle, sozial gebotene Arbeitsplätze und den Verlust von Fähigkeiten und Erfahrung bedeutet, vielmehr Abhängigkeiten schafft, die gefährlich werden können. Doch zuletzt haben die USA die „Zeitenwende“ eindrucksvoll mit Leben erfüllt.
Europa/Deutschland muss sich seiner Stärken als Entwicklungs- und Fertigungsregion bewusst werden, eine hohe Eigenleistung bringen, ein angemessenes Maß an Autonomie bewahren und somit Wohlstand schaffen.
Managerismus-Beiträge
- Der industrielle Niedergang der USA – Lehren für Europa - Denkschrift Nr. 8
- Die Zukunft der Produktion in Deutschland - Denkschrift Nr. 12
Quellen und Bezüge
- Charles Fishman: GE, a pioneer of outsourcing, is bringing American manufacturing back to life; In: The Atlantic, Dec. 2012
- Dan Wang: China’s Hidden Tech Revolution – How Beijing Threatens U.S. Dominance; Foreign Affairs, March-April 2023
- Delivering the US manufacturing renaissance, McKinsey Global institute, Aug. 2022
- Offshoring: Is It a Win-Win Game? McKinsey Global institute, San Francisco, Aug. 2003
- Economist, Fortune, New York Times, Foreign Affairs, Siemens/Infineon
Anmerkungen
(1) In Anlehnung an „The Great Transformation“ von Karl Polanyi von 1944, in dem die Herausbildung der Marktwirtschaft und des Nationalstaates beschrieben wird. Siehe dazu: Relecture Nr. 6
(2) Umfasst 39 Mrd. für die Chip-Fabrikation und 25 Prozent Steuernachlass für entsprechendes Equipment.
(3) In der Hauptsache dient das Programm dem Inflationsausgleich, ähnlich dem „Doppel-Wumms“ der deutschen Regierung zur Abfederung der gestiegenen Energiekosten.
(4) Die Stromkosten liegen bei einem Drittel (in China bei einem Fünftel) von denen in D und Teilen Europas.
(5) Bei der Windkraft ist es neben den großen drei europäischen Herstellern nur GE.
(6) Zum Höhepunkt der Produktion im Jahre 1997 lag die Zahl der Beschäftigten bei 19,6 Mio. Zwischen 2000 und 2010 waren die Jobverluste sieben Mal höher als in den zehn Jahren davor.
(7) Ausdruck der demokratischen Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton von 2016.
(8) Unter Managerismus subsumierbar. Siehe dazu insbesondere Denkschrift Nr. 49
(9) Ein wesentlicher Impuls: "The Core Competence of the Corporation" von C. K. Prahalad and Gary Hamel (1990). Viel früher regte Peter Drucker das “farming out” von Aktivitäten eines Unternehmens an, “in which it had no “special ability”; eine eigentlich naheliegende, dennoch im Einzelfall gründlich zu untersuchende Option.
(10) Siehe dazu: Management-Gurus – Aufstieg und Fall -Denkschrift Nr. 27
(11) McKinsey hatte bis vor Kurzem eine eindeutige Präferenz: “Offshoring brings substantial benefits to the global economy, and the lion’s share will likely go to the U.S. economy. ……… U.S. policy and businesses need to reinforce the flexibility of the economy and soften the impact to those workers likely to be affected by offshoring. Given the large surplus generated from offshoring activities, doing so is highly feasible. By doing so, they will help ensure their own competitive interests and America’s. In doing so, they will create a win-win situation for the global economy.”
(12) Nach PIMS, dem ersten empirischen Forschungsprojekt im Bereich der strategischen Analyse und Planung.
(13) Diese Logik wird mit der U-förmigen Smiling-Curve abgebildet.
(14) Dazu zählen insbesondere deutsche Unternehmen und wenige Regionen wie Wisconsin.
(15) Das Fiasko: Durch die Abwanderung der 2011/12 boomenden Branche Photovoltaik gingen rund 100.000 Arbeitsplätze verloren. Alle großen Hersteller gingen in Konkurs. „Solarland Ostdeutschland“ verschwand.
(16) Dieses Projekt war für damalige Verhältnisse enorm groß, mit über 1 Mrd. DM in fünf Jahre und mehr als 100 zusätzlichen Ingenieuren. Und es war sehr erfolgreich: In Kooperation mit Toshiba gelang nach vier Jahren die Herstellung von 1-M-DRam´s und 1999 eines Gigabit-Speicherbausteins.
(17) Erfolgte im Zusammenwirken des damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf und mit dem Vorstandsvorsitzenden von Siemens, Heinrich von Pierer.
(18) Die Marktkapitalisierung von SML betrug 3/2023 250 Mrd. Euro, die von Philips 14 Mrd. Euro
(19) Im Frühjahr 2023 wurden von Der Kommission der „Critical Raw Materials Act“ (Abbau, Veredelung und Recycling von 18 strategischen Rohstoffen sowie der „Net Zero Industry Act“ (Ansiedlung grüner Technologie) herausgebracht, denen die Mitgliedsstaaten noch zustimmen müssen.
(20) China hat die an der Universität Wien entwickelten quantentechnischen Verfahren auf dem Wege wis-senschaftlichen Austausches zielstrebig übernommen. Voraussichtlich wird China als erstes Land über ein komplettes Quantenkommunikationsnetz verfügen.